Politik und Wirtschaft sind so komplex, dass man allzu einfachenErklärungen nicht glauben sollte. Das gilt speziell für den„Brexit“ als Verlassen der EU durch das Vereinigte Königreich vonGroßbritannien und Nordirland. Risiken, Gefahren und Folgensind nach vielen Kriterien zu differenzieren.
VON PETER FILZMAIER
Die Briten haben zu 52 Prozent entschieden, aus der EU zugehen. Das ist ihr gutes Recht, geschah aber ohne Rücksicht aufden 48-prozentigen Rest und die Stimmverteilung: England undWales wollten raus. Schottland will das auch, allerdingswomöglich aus Großbritannien und wieder rein in die EU.
Londoner und Nordiren sind detto mehrheitlich unter den fast 16Millionen EU-Befürwortern. Da die Republik Irland treues Mit-glied bleibt, könnte auf dieser Insel sogar der Nordirland-Konfliktmitsamt seiner Gewalt neu aufleben. Das Land ist also nach derAbstimmung zerstrittener denn je und steht vor einer regionalenZerreißprobe.
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Überregional stellt sich die Frage, ob sich nicht auch anderswoMehrheiten für einen Austritt finden würden, und warum das sosein könnte. Weil die Antwort in jedem der bald 27 Mitgliedsstaa-ten anders ist, ist man zersplittert. Wie soll zudem eine gemeinsa-me Politik möglich sein, wenn je nach Staat Wachstum, Einkom-men, Inflation, Schulden, Arbeitslosigkeit sowie Zuwanderungplus Befürwortung der EU selbst gigantische Unterschiede auf-weisen? Zum Beispiel variieren die Staatsschulden 2015/16 zwi-schen unter zehn und über 180 Prozent des Bruttoinlandspro-
2.
Peter Filzmaier ist Profes-sor für Politikwissenschaftan der Donau-UniversitätKrems und der Karl-Fran-zens-Universität Graz so-wie GeschäftsführenderGesellschafter des Insti-tuts für Strategieanalysen(ISA) in Wien
Was nun? Die EU könnte entweder mit den Briten Teilverträge ab-schließen, damit sich wenig ändert. Oder es wird ein Exempelstatuiert, dass alle „Exits“ Nachteile haben. Beide Varianten sindtückisch: In internationalen Organisationen bringt man sich ein,weil für Engagement und Verpflichtungen exklusive Vorteile —von Förderungen bis Verhandlungssicherheit — winken. HabenNicht-Mitglieder trotz „Brexit“ de facto denselben Status, machenMitgliedschaften weniger Sinn. Umgekehrt gibt es keine Sanktio-nen gegen die britische Politik und/oder Wirtschaft, welche nichtzugleich Probleme für Regierungen und Bevölkerung in „EU-ropa“ mit sich bringen.
Der US-Politikwissenschaftler Arnold Wolfers hat die globale Poli-tik als Spiel mit Billardbällen bezeichnet. Setzt man eine Kugel inBewegung, sind die Reaktionen und das Gesamtbild danach nichtimmer abzuschätzen. „Brexit“ ist auch nicht Karambolage mitnur drei Kugeln, sondern Snooker. Dementsprechend gefährlichist es, unüberlegte Stöße vulgo politische Ad-hoc-Reaktionen zusetzen.
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Dieser Artikel isterstmals inAusgabe 1/2017der perspektivenerschienen.